Lichttext Juni 2011
Kraftort Nigardsbreen
Nur noch wenige Minuten und auch ich würde den Gletscher erreichen. Nigardsbreen, ein Arm des Jostedalsbreen in Fjordnorwegen, ist zum Greifen nah, als meine Füße, mein ganzer Körper sich auf einmal nicht mehr weiterbewegen wollen. „Kommst du?“, rufen die anderen. Ich bin mir nicht sicher.
Verlockend schön, tiefblau und kaltweiß liegt die riesige Gletscherzunge vor mir, eingehüllt in grauen Staub wie eine auf dem Speicher vergessene Daunendecke. Ihre schwere, die Jahrhunderte überdauernde Ruhe strahlt in alle Richtungen ab. Nur am Boden, am kreisrunden Gletschertor, entlässt sie einen lebendigen Bach voller Schmelzwasser.
Sein Rauschen höre ich bis auf den Felsen, auf dem ich immer noch zögernd stehe, doch fühle ich mich wie vor einer unsichtbaren Wand, die meine Neugier dämmt und meine Fortbewegung bremst. Seltsam. Warum will ich nicht auch entdecken, was die anderen gleich am Ufer des Schmelzwasserbaches sehen werden? Warum will ich dem Gletscher nicht selbst so nah wie möglich kommen, ihn berühren, in sein Innerstes blicken?
Stattdessen gebe ich der großen Steinplatte unter meinen Füßen nach. Okay, ich bleibe. Nutze einen weiteren Stein als Fußstütze und bette mich auf den sanft gerundeten Felsen wie auf eine XXL-Wellnessliege in einem Luxus-Spa. Nur dass ich hier gemütlicher liege, frische Luft statt Chlor und Aroma-Öle einatme und sofort dem grandiosen Ausblick verfalle. Auf den wölkchenbefleckten Himmel, den Gletscher, die schneebedeckten Berge, die ihn einrahmen, samt ihrer kleinen Wasserfälle, die rechts und links von mir an den feucht glänzenden Bergwänden herabrinnen.
Vollkommene Zufriedenheit stellt sich ein. Obwohl ich das eigentlich gesetzte Ziel nicht erreicht habe. Was mir dafür aber gelungen ist, ist ein inneres „Stopp“ wahrzunehmen und ihm vollständig zu vertrauen.
Als mich die anderen auf ihrem Rückweg wieder aufsammeln, bin ich relaxed und energetisiert zugleich. Mir ist klar, dass ich gerade einen Kraftort gefunden habe. Meinen Kraftort. Oder besser gesagt, er hat mich gefunden und für eine glückliche Viertelstunde nicht mehr losgelassen.
Text: Petra Nickisch, Juni 2011
Fotos: Petra Nickisch (2), Andreas Guballa (1)
Anreise Nigardsbreen
Vom norwegischen Ort Gaupne am Westufer des Lustrafjords geht die Autofahrt durch das Jostetal über Gjerde zum Breheimsenteret, einem Besucherzentrum mit Museum, Café und Shop. Kurze Zeit später wird die Straße gebührenpflichtig. Sie führt zum Parkplatz am See Nigardsbrevatnet, den man per Boot Richtung Gletscher überqueren kann. Alternativ bietet sich der Wanderweg am Seeufer an. Das Foto vom Jostetal auf www.jostedal.com zeigt eine gute Streckenübersicht aus der Vogelperspektive.